Inmitten einer der größten Krisen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs geraten Institutionen (Politik und Kirche) ins Wanken, die seit jeher für Beständigkeit, Verlässlichkeit, Halt und Vertrauen stehen. Am Ende der Kanzlerschaft Merkel verliert die Volkspartei CDU den Kern ihrer Werte. Immer mehr erstreckt sich für viele in der Bevölkerung der Eindruck, dass in Reihen der CDU/CSU – Bundestagsfraktion das „C“ verloren geht. Unabhängig davon, ob es ein strukturelles Problem oder Einzelfälle sind – ein Vertrauensverlust in „die Politik“ und unser demokratisches Gefüge ist die bittere Folge.
Gleichzeitig erschüttern auch andere Nachrichten die christliche Welt. Aus dem Vatikan ist zu hören, dass der Segen nur Heterosexuellen erteilt werden darf. Papst Franziskus, der auf dem Stuhl Petri als Vertreter Gottes auf Erden setzt, kehrt damit von der Botschaft „Gott liebt alle Menschen ab“. Es ist die klare Mitteilung, dass aus Sicht des obersten Vertreters der katholischen Kirche homosexuelle Menschen in geringerem Maß Gottesliebe und Segen verdienen als ihre heterosexuellen Mitbürger*innen. Es ist nicht nur die diskriminierend gegenüber Homosexuellen – es ist auch die Botschaft, dass die Institution Kirche, welche für Zusammenhalt, Gemeinsinn und Unterstützung stehen sollte –Ressentiments schürt und Ausgrenzung betreibt. Unser früherer deutsche Bundeskanzler Willy Brandt hat den Satz „Versöhnen statt spalten“ in seiner Ostpolitik geprägt – ein Satz, den auch Papst Franziskus sich dringend zu Herzen nehmen sollte. Eine katholische Kirche, die ausgrenzt, passt nicht ins 21. Jahrhundert. Gut, dass vor Ort viele Gläubige aufstehen und sich bei Maria 2.0 engagieren oder auch dass Kirchengemeinden Regenbogenfahnen in ihren Gemeinden hissen. Der Aufstand der Anständigen in der katholischen Kirche hat begonnen. Ob er Zukunft hat, bleibt bei den herrschenden verkrusteten Machtstrukturen jedoch fraglich.
Nahezu zur gleichen Zeit wird das Gutachten zu den Missbrauchsvorfällen im Erzbistum Köln veröffentlicht – endlich muss man sagen. Dass der Mann, der das Gutachten beauftragt hat, selbst völlig unbelastet aus der Affäre hervorgeht, scheint unwahrscheinlich – wurde das Gutachten der Kanzlei doch lange von Kardinal Woelki zurückgehalten. Die Rolle des Kölner Erzbischofs wird zu hinterfragen sein. Mit Schwaderlapp, Hesse und Puff sind hochrangige Vertreter der Kirche von ihren Aufgaben entbunden worden – ja haben sogar teils dem Papst ihren Rücktritt angeboten. Die Missbrauchsvorfälle im Erzbistum Köln und in der katholischen Kirche bedürfen einer lückenlosen Aufklärung. Die Entschädigung der Opfer ist das eine – mindestens genauso wichtig ist jedoch auch, dass die Täter und Mitwisser der Missbrauchsvorfälle zur Verantwortung gezogen werden. Der Missbrauch von Kindern- und Jugendlichen in der katholischen Kirche scheint ein strukturelles Problem und kein Einzelfall zu sein. Bezeichnungen wie „Brüder im Nebel“ machen deutlich, dass Aufklärung und Aufarbeitung der Vorfälle bewusst unterlassen wurden. Vorfälle – wie diese im Erzbistum Köln – führen zu einem Vertrauensverlust in die Institution Kirche. Viele kirchliche Laien engagieren sich in ihren Gemeinden mit Herzblut für ihre Mitmenschen vor Ort. Zahlreiche Seelsorger*innen sind in den Gemeinden für die Menschen da – geben ihnen Kraft, Halt, Zuversicht und Stärke. Dieses sozial wichtige Engagement vor Ort gerät in den Hintergrund, wenn man auf die aktuellen Vorfälle blickt.
Die zunehmende Anzahl an Kirchenaustritten zeigt, dass das Vertrauen in die Institution Kirche immer weiter verloren geht. Der Segensentzug wegen sexueller Orientierung sowie Missbrauch und dessen Vertuschung wirken wie ein Brandbeschleuniger des Vertrauensverlustes. Und das in einer Zeit, die durch Unsicherheit geprägt ist. Eine Zeit, in der politische Parteien, Gewerkschaften und Kirchen den Menschen Orientierung, Zuversicht und Sicherheit bieten sollten – eine Zeit, die normalerweise zu Eintritten statt Austritten führen müsste.
Menschen suchen Orientierung. Menschen suchen Vertrauen. Menschen suchen Zukunft und Zuversicht. Menschen wollen an etwas glauben. Der Glaube an Gott oder an andere „übermenschliche“ Kräfte verbindet Menschen. Der Glaube an Gott ist für viele Menschen unabhängig vom Besuch in der Kirche oder dem Gebet da. Der Glaube an Gott, auf den ich mich verlassen kann und der mich leitet. Der Glaube an Gott ist stark in den Menschen, doch das Vertrauen in die katholische Kirche wird zunehmend erschüttert. Der Glaube an Gott hat Zukunft – die Zukunft der katholischen Kirche hingegen ist ungewiss. Die jüngsten Ereignisse im Vatikan und in Köln werden noch mehr Menschen darüber nachdenken lassen, ob ihr Glaube an Gott die Institution Kirche benötigt und ob der Glaube an eine Reform der Kirche noch groß genug ist. Die Bewegungen der kirchlichen Laien und einiger weniger Geistliche machen Mut, dass Kirche Zukunft hat – allein der Glaube daran, dass die deutsche Bischofskonferenz oder der Vatikan Zukunft verstehen und Zukunft leben können, fehlt.
Die Erosion des Vertrauens und der Mitgliederzahlen in der katholischen Kirche kann nur aufgehalten werden, wenn mutige Reformen zügig angegangen werden. Es braucht nicht weniger als einen Neustart. Die Stärke des Glaubens muss Ausgangspunkt für eine neue Stärke des Vertrauens und des Zutrauens in die Kirche sein. Die lückenlose Aufklärung der Missbrauchsvorfälle und das zur Verantwortung ziehen der Täter ist dabei nur ein Baustein. Die katholische Kirche muss sich für Frauen in allen Funktionen öffnen. Weibliche Geistliche auf allen Ebenen müssen der Normalfall werden. Die Abschaffung des Zölibats, die Toleranz gegenüber und Akzeptanz unterschiedlicher sexueller Orientierungen sowie das Bekenntnis zur Schwangerschaftsverhütung sind längst überfällige Maßnahmen, die keinen Tag länger auf sich warten lassen dürfen. Die katholische Kirche benötigt eine Transparenzoffensive. Hierzu zählt auch die Abschaffung der Bischofsbesoldung durch die öffentlichen Haushalte. Die Kirche muss ihre Geistlichen selbst finanzieren. Die Kirchensteuer muss von der Einkommensteuer entkoppelt und deren Verwendung für alle Mitglieder transparent offengelegt werden. Es braucht eine Stärkung der Gemeinde vor Ort und der kirchlichen Laien statt Zentralisierung in den Bistümern. Das Leben der Menschen findet vor Ort statt – in ihrem Veedel, in ihrer Gemeinde. Die Gemeinde muss wieder zum Mittelpunkt des katholischen Kirchenlebens werden – mit Verantwortung und Gestaltungsfreiräumen. Die Zeit rennt, wenn die Institution Kirche eine Chance haben will. Es braucht Mut alte Zöpfe abzuschneiden und sich radikal zu erneuern. Der Glaube an Gott ist stark – die Kirche muss den Glauben ihrer Mitglieder jetzt nutzen, um diese Stärke in neues Vertrauen umzusetzen. Gelingt diese radikale Reform nicht, dann hat der Glaube Zukunft – die Kirche jedoch leider nicht.